Theater

 

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Frauenkunst

"Wenn niemand zusieht...
gibt es auch kein Theater"

Theater zwischen
WERKTREUE und MODERNE
BÜRGERTUM und 4. WAND
FINANZNOT und KRISE


Vortrag von Rainer Lewandowski

am 3. 10. 2001 zur

Semestereröffnung der VHS-Bamberg

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der heutige kleine Vortrag möchte den Versuch wagen, ohne zu viele Einzelinformationen wie Jahreszahlen, Autorennamen, Stücktitel usw. einen großzügigen, ja großflächigen Überblick über Entwicklungen und Befindlichkeiten des Theaters, der Besonderheiten des deutschen Theaters, oder besser: des Theaters in Deutschland zu vermitteln.
Wir werden dabei, wie der Untertitel schon andeutet, Themen streifen, die sehr unterschiedlich sind, auch werden für uns bisher scheinbar eindeutige Begriffe zunächst einmal verwirrt werden, aber ich hoffe, es gelingt mir trotzdem, verbindende Linien und Zusammenhänge deutlich zu machen.

Fangen wir ganz im allgemeinen an.

Was bedeutet: Theater : (von griechisch: theatron, "Schauplatz")?

Theater wurde seit dem 17. Jahrhundert das Dramenstück benannt, seit dem 19. Jahrhundert vornehmlich der Theaterbau und das Theaterwesen in seiner Gesamtheit. Darin enthalten sind neben dem Theatergebäude und den Werken auch der Theaterbetrieb, das Theaterspiel und die Bühnenaufführung. ‚Theater' ist also kein eindeutiger Begriff, wie wir schon zu Beginn feststellen müssen.
Das gleiche gilt auch für die Kunstgattung: Theater.
Schon immer verbanden sich im Theater verschiedene Künste miteinander: seien es Schauspielen, Bühnenbild, Kostüme, Masken usw., seien es Tanz-, Sprach- und Musikelemente. Grundsätzlich unterscheidet man drei Sparten im Theater: Musiktheater (Oper, Musical, Operette, Musikdrama), Tanztheater (Ballett, Pantomine, Ausdruckstanz) und Sprechtheater (Schauspiel), wobei jedoch insbesondere das Tanz- und das Musiktheater auch viele Elemente der anderen Kunstdisziplinen enthalten.
Besondere Formen des Theaterspiels sind das Puppentheater, das Kinder- und Jugendtheater und außereuropäische Theaterformen wie das asiatische Schattenspiel, japanische Theaterformen (z.B. Nô, Bunraku und Kabuki) oder die chinesische Peking-Oper.

Entsprechend der Vielfalt der sich im Theater vereinenden Kunstgattungen ist der Theaterbetrieb ein kleiner Kunst-(und Verwaltungs-)Kosmos in sich. Am deutlichsten wird das, wenn man sich den Aufbau heutiger Theater kurz vor Augen führt. Der größte Teil der Arbeit findet nämlich hinter den Kulissen statt.
Soviel als Antwort auf die sehr beliebte Frage an Theaterleute: "Und was machen Sie vormittags?"
Das Theater ist in drei große Bereiche geteilt: in den künstlerischen Bereich, den Verwaltungssektor und den technischen Bereich.
Der technische Bereich wiederum ist in den Bühnenbetrieb (Ausstattungsleitung, Beleuchtung, Bühnentechnik, Requisite, Ton, Maske u.a.), die Theaterwerkstätten (Schreinerei, Malersaal, Schlosserei, Masken- und Perückenwerkstatt u.a.) und die Kostümabteilung (Schneiderei, Fundus, Schuster, Ankleidedienst, Wäscherei u.s.w.) unterteilt.

Der Verwaltungssektor ist für alle Verwaltungsbelange eines Hauses wie Etat, Kartenverkauf, Pförtner, Heizung, Handtücher, Garderobe etc. verantwortlich.
Dem künstlerischen Bereich gehören zumeist als Festangestellte an:
der Disponent (Terminplaner), der Dramaturg (Spielplan, Programmhefte, Plakate, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit), der Regieassistent (der Produktionsbegleiter und das Bindeglied zwischen den Abteilungen), der Inspizient (der Leiter der Vorstellungen), die Souffleusen (die TexteinhelferInnen), der Theaterfotograf, die Statisterie-Leitung, im Musik- und Tanztheater noch das Orchester und der Chor bzw. das Ballett.

Meist für die Dauer einer Produktion sind der Regisseur, die Bühnen- und Kostümbildner, der Choreograph als Gäste engagiert, bei Bühnen ohne festes KünstlerInnen-Ensemble auch die Schauspieler bzw. Solotänzer und -sänger.
Dem gesamten Theaterbetrieb steht der Intendant vor.
Jetzt wissen Sie so in etwa, was wir alle den ganzen Tag machen.

Wenden wir uns jetzt neben diesen verwaltenden und organisatorischen Aufgaben zunächst einmal einem großflächigen Rückblick zu, worin das, was wir heute verwaltend gestalten, seine Ursprünge hat.

Beginnen wir gleich mit einem Dauerbrenner-Thema:

Theater zwischen Moderne und Werktreue -


Was bedeutet das eigentlich: ‚Moderne'?
Dieser Frage wollen wir in den folgenden Überlegungen nachgehen und wir werden feststellen, dass auch die ‚Moderne' kein eindeutig fixierter Begriff ist, sondern selbst dem historischen Wandel unterliegt.
Sicherlich meint ‚Moderne' in dem auf Theaterspielpläne gebrauchten Zusammenhang zunächst einmal den äußeren Umstand, dass ein Theater - neben den ‚Klassikern' und ‚modernen Klassikern', deren Verfasser ja meistens schon tot sind - auch viele lebende Autoren spielt.
Das ist ein Aspekt.
Aber: man kann auch ‚tote' Autoren ‚modern' inszenieren - was anschließend äußerst beliebte Diskussionen um das, was man ‚Werktreue' nennt, hervorruft.

Was ist ‚Werktreue'?
Werktreue - so meinen wir - trifft immer dann zu, wenn der individuelle Zuschauer individuell glaubt, auf der Bühne ein Stück so gesehen zu haben, wie er das Stück ‚kennt', genauer: wie er es zu kennen glaubt, wie er es liest, gelesen hat oder schon einmal irgendwo und irgendwie gesehen hat oder sich daran erinnert. ‚Wir wollen unsere Klassiker wiedererkennen!' ist die inzwischen selbst schon ‚klassische' Forderung der Werktreuen.

Bevor wir dieses Thema präziser fassen, fragen wir uns zunächst einmal noch etwas Grundsätzlicheres, nämlich:
Welche Vorgänge laufen beim ‚Theatersehen' überhaupt ab?

Wenn wir, also der Zuschauer, also Sie, eine Inszenierung sehen, dann ist die Inszenierung als Ende eines Arbeitsprozesses und damit das Stück selbst bereits durch die Phantasie anderer (Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler) gefiltert. Das heißt, die Inszenierung, die Umsetzung auf eine bestimmte Bühnenrealisation hat den Ausgangspunkt, das Stück, den Stücktext, per se schon vielfältig verändert.
Das ist der eigentliche Vorgang des Inszenierens, der sich, und das ist der Entschluß aller Beteiligten, bewußt - oder eben auch unbewußt - mehr oder weniger weit vom Buchstabenwert des vorgegebenen Textes entfernen kann. Grundlage jeder Inszenierung ist zunächst einmal das Lesen, die Lektüre.
Was geschieht, fragen wir einmal weiter, wenn ich einen Text lese?
Der Lesevorgang ist immer individuell, d.h. das individuelle Ich interpretiert den Text im Lesevorgang mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln: historische Kenntnisse, Vorwissen, Bildungsgrad, Lebenserfahrung, eigene Biographie als Bezugsfolie. Das alles dringt - unbewußt - quasi unreflektiert, ‚natürlich' wirkend, in den Lesevorgang mit ein und gestaltet ihn mit.
Im Unterschied zur Lektüre anderer Kunst-Gattungen gibt es in einem Theaterstück mit seiner dialogischen Textstruktur sehr viele unbeschriebene, zu erschließende Wechselbezüge: zwischen den Personen, zwischen den Spielorten, in der Art und Weise, wie die Figuren miteinander reden, sich bewegen etc.
Das alles ergänzt sich der Leser - unbewußt - während seiner Lesephantasiearbeit hinzu. Der Leser merkt es meistens gar nicht. Er ‚versteht' einfach - oder auch nicht. Das Theaterstück hilft beim Verstehen vielleicht weniger als epische Gattungen. Deshalb ist die Form eines Theaterstücks nicht so ohne weiteres sofort für jedermanns Verständnis zugänglich. Dazu gehört Leseerfahrung, es ist ein Lernvorgang.
In jedem Falle entsteht aber ein durch den Leser gefiltertes oder angereichertes individuelles, subjektives Hirnprodukt. Am objektivsten scheint dabei noch der gedruckte Text, die Sprache selbst zu sein, denn die steht ja unveränderlich geschrieben da, die kann ja jeder ‚lesen'.

Aber wie lese ich? Was ist Lesen?
Lesen ist hinzufügen von Sinn. Ich füge beim Lesen einen Sinn hinzu, mein Verständnis, meinen Sinn, nämlich den, wie ich die Buchstabenfolge - im Rahmen von gesellschaftlichen Konventionen, von intersubjektiven Vereinbarungen, von individuellen Erfahrungen - zu verstehen gedenke.
Das muss - und damit wird die Sache noch unübersichtlicher - das muss nicht unbedingt die Lesart sein, die der Autor vielleicht meinte.
Und damit kommen wir wieder zurück zu dem schon angeschnittenen Thema, was ‚Werktreue' ist. ‚Werktreue' ist eben nicht nur die äußerliche Identität der Wortfolge, das, was mit dem Textbuch in der Hand oder in geflügelten Worten von der Bühne herab scheinbar so vertraut nachvollziehbar ist.
Der Sinn eines Satzes hängt in einem Theaterstück und in anderen Texten von einer Vielzahl von ihm äußerlichen Faktoren ab, die sich im Falle Theater vielleicht erst im Spiel, im Zusammen-Spiel ergeben.
Diese Faktoren zu beobachten und zu analysieren ist die Arbeitsleistung des Regisseurs, der Schauspieler und des Zuschauers während einer inszenierten Aufführung.
Es gilt z. B zu erkennen, wer sagt den Satz zu wem?
Wohin blickt die Person dabei? Wohin blickt sie nicht?
An welche Position im Bühnenraum ist sie arrangiert?
Wie stehen - im wahrsten Sinne des Wortes - diese Personen zueinander?
Wie nah oder wie weit von anderen entfernt?
Ist der soeben gesprochene Satz ernst gemeint oder hat er vielleicht einen stummen Untertext aus der besonderen Gesprächssituation heraus, die eigentlich sogar das Gegenteil von dem meint, was da wörtlich im Buche steht?
Vor allem ist manchmal auch wichtig, was vielleicht nicht gesagt wird?
Lesen und Zuschauen ist Arbeit, meine Damen und Herren.
Das alles sind interpretatorische Faktoren, die das Betrachten einer Inszenierung sowie die Lektüre eines Textes ausmachen, das Verständnis des Begriffes ‚Werktreue' beeinflussen.
‚Werktreue' ist also offenbar weit vielschichtiger als man obenhin meinen könnte.
Denn - und das ist eine schiere Gemeinheit - nicht einmal der Text selbst, das einzige, an das wir uns doch halten können, ist eindeutig.
Ich möchte das an einem vergleichsweise einfachen Satz einmal demonstrieren:
‚Ich - gehe - jetzt - nach Hause.'
So steht der Satz im Buch. Lesbar. Nachlesbar. Eindeutig. Wirklich eindeutig?
Also gut: Was bedeutet der Satz? Bedeutet er:
Ich gehe jetzt nach Hause.
Ich gehe jetzt nach Hause.
Ich gehe jetzt nach Hause.
Ich gehe jetzt nach Hause.
Und nun: Vorsicht! Untertext, d.h. versteckte Bedeutung:
Untertext: ‚Welch ein Irrtum!' - Ich gehe jetzt nach Hause...
Oder beruhigende Lüge: Ich gehe jetzt nach Hause...
Und der anderen Möglichkeiten mehr.
Welche dieser Bedeutungen des äußerlich gleich zu lesenden Satzes ist die passende? Das ist die jeweils zu treffende Entscheidung. Eine individuelle Entscheidung.
Sie sehen: Lesen ist von vorn herein eigentlich immer schon Interpretation. Doch das merken wir meistens gar nicht, wir fügen unser Verstehen unbewusst hinzu.
Beim Anschauen eines Theaterstückes werden einem viele solcher inhaltlichen Entscheidungen unmerklich durch die Arbeit der Regie und der Darsteller abgenommen. Der Text erscheint dann gleich in der interpretierten Form und nimmt dem Zuschauer gegenüber dem Leser viel Arbeit ab. Aber diese Arbeit ist dennoch einmal geleistet worden und in das Endprodukt eingeflossen.
Deshalb gilt: ‚Werktreue' sozusagen als objektiv einzufordernde Formen und Inhalte eines Textes kann es strukturell nicht geben. Das wird jedoch gern vergessen und ungeprüft unter kollektiven Konventionen traditioneller Vor-Interpretationen versteckt. Allzu gern meint man, so, wie ich das Werk kennengelernt habe, so, wie mir darüber berichtet wurde, so, wie ich es in der Schule gelesen habe, so, wie es im Schauspielführer beschrieben wird, so, wie ich es einmal aufgeführt gesehen habe, so ist es für mich ‚werktreu'.
Sie sehen, so einfach, wie das alles mit der ‚Werktreue' auf den ersten Blick schien, ist es wohl eher nicht.

Aber nun wieder zurück zum vermeintlichen Gegen-Begriff zur ‚Werktreue', zum Begriff des ‚Modernen'.

Ich möchte zunächst einmal versuchen, näher darauf einzugehen, was für mein Verständnis hinter dem Etikett des ‚Modernen' verborgen sein könnte, denn sicher müssen wir davon ausgehen, dass es nicht nur verschiedene Ansätze der Deutung des Begriffes gibt, sondern dass es, jeweils im sich verändernden historischen Zusammenhang betrachtet, auch verschiedene ‚Modernen' gibt, je nachdem auf welches ‚Ältere', Vorangegangene ich mich in der Betrachtung bzw. Definition dessen, was jetzt das ‚Moderne' sein soll, beziehe.
Das ist ein wichtiger Gedanke, denn wir halten schon von vorn herein fest: Die ‚Moderne' selbst wandelt sich.
Um verständlich zu machen, was ich meine, beginne ich deshalb am besten mit einem schlaglichtartigen, großflächig zusammenfassenden Rückblick auf bestimmte strukturelle Entwicklungsphasen des Theaters oder theatralischer Vorgänge überhaupt.

Theater ist - ganz allgemein gesagt - ein sich wandelndes Mittel oder Medium, mit Menschen ‚Mit-Menschen' eine ‚Mit-Teilung' zukommen zu lassen.
In diesem Versuch einer allgemeinen Grundbestimmung verbirgt sich Vieles.
Zunächst die Worte ‚mit Menschen' und ‚Mit-Mensch'. Theater ist nämlich die unmittelbarste Ausdrucksform des dem Menschen innewohnenden Spieltriebes, des Triebes und der Fähigkeit, spielerisch Handlungsmodelle zu entwerfen und zu durchleben, ohne dass in ‚Realität' gehandelt werden muss, ohne dass leibhaftige Erfahrungen gemacht werden müssen. Theater ist ein hochorganisiertes ‚Gedanken'-‚Spiel' von Menschen für Menschen.
Spiele gibt es in der praktischen Verrichtung auch anderswo in der Tierwelt, zu der der Mensch ja schließlich auch irgendwie zählt.
Wenn beispielsweise junge Raubkatzen jagen und reißen üben, der Mutter nacheifern, an und mit sich selbst ‚spielerisch' kämpfen üben, wenn die Affen ‚spielen', so sind das Spielformen, die zum Einüben von lebensnotwendigen Techniken des Handelns und Überlebens dienen. Das aber sind praktische Übungsspiele, die noch nicht vergleichbar sind mit dem menschlichen ‚Gedanken-Spiel', mit Theater.
Der Mensch geht in dieser Entwicklung sehr viel weiter, denn er bildete im Laufe der Jahrtausende diese spielerischen Übungen zu einem System aus, in dem sehr bald das hinzu kommt, was das eigentliche Theater, die grundlegende Situation des Theaters ausmacht, nämlich der Zuschauer.
Das heißt: Es gibt eine Arbeitsteilung. Es gibt Zuschauende und für Zuschauende Spielende.
Damit entrückt die praktische Spielerei für einen Teil der Beteiligten auf eine andere Ebene, nämlich weg von der direkten Aktion hin zum ‚Gedanken'-Spiel, zum ‚Vorspielen' lassen. Diese Fähigkeit des ‚Gedanken'-‚Spiels' ist es dann auch, die den Menschen grundsätzlich vom Tier unterscheidet.
(Zumindest nach den Fähigkeiten, die wir Menschen heute den Tieren unterstellen.)
Die menschliche Phantasie ist so beschaffen, dass für sie das unmittelbarste Ausdrucksmittel der Mensch selber ist, mit allen seinen Fähigkeiten, der Mensch mit seinem Geist, aber zugleich auch mit seinem Körper, seinen Gliedmaßen, seinen Sinnesorganen, seiner Stimme und was er sonst noch hat.
Diese Phantasie in Bewegung umgesetzt eben ist jenes ‚Probe-Handeln', ist die erste Voraussetzung zum nicht ins praktische Leben eingebundenen Spielen, zum Singen, Tanzen, Schau-Spielen, kurz: zum Theater.
Frühe Formen dieser theatralischen Phantasietätigkeit sind z.B. Opferrituale, ekstatische Tänze um das Feuer, rhythmisches Stampfen im Freuden- oder Trauertaumel. Diese Elemente sind zugleich auch frühe Formen des Theatralischen, des Theaters überhaupt. Allerdings eines Theaters, wie wir es heute nicht mehr kennen. Die Anfänge dieses ‚Theaters' in jener prähistorischen Zeit sind ein ‚Theater' des Mitmachens. Spieler und Zuschauer sind eins. Spielen und Zuschauen sind identisch.
Noch gibt es auf dieser Stufe der Entwicklung die Trennung zwischen Spieler und Zuschauer nicht. Was erlebt wird ist Kult.
Die Aufhebung dieser Identität ist erst Folge einer späteren kulturellen Veränderung der Ausdrucksformen des Theaters, ist Ergebnis der Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilungen, wenn nicht mehr alle benötigt werden, durch ihre Arbeit das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Diese freigesetzten Kapazitäten konnten dann im Sozialgefüge andere Aufgaben erhalten.
Auf dieser fortgeschrittenen Stufe der Arbeitsteilung beginnen die Rituale des Ur-Theatralischen sich in Formalisierungen umzuwandeln. Formgesetze entstehen, hohe Blüten der Kultur, für unseren europäischen kulturellen Lebensraum im wesentlichen gebunden an die Entwicklung des griechischen Macht- und Kulturkreises.
Ans Ritual angelehntes chorisches Sprechen, technische Hilfsmittel werden entwickelt (Kothurne, Masken), damit die Darsteller im weiten Rund des riesigen Amphitheaters besser zu hören und zu sehen sind. Darbietungsvoraussetzungen werden bedacht, strenge Formen des theatralischen Ablaufs festgelegt, Soziales mischt sich ein, z. B. nur Männer dürfen spielen, auch die Frauenrollen.
Die strenge Trennung zwischen Zuschauer und Darsteller wird festgeschrieben, aber immer noch sucht diese Form des Theaters seine Verbindung zu den urwüchsigen Gefühlen menschlicher Reaktionsfähigkeiten: Freude und Heulen.
Griechisches Theater ist ganz im Gegensatz zur heute noch immer weit verbreiteten Meinung, trotz aller Formalisierung im Respekt der sogenannten Antike gegenüber, wesentlich gefühlsbetonter und ursprünglicher als es aus guten Gründen im 18. Jahrhundert aus bürgerlicher Sicht zum Beispiel von Lessing - fälschlicherweise, und unter Berufung auf die Autorität Aristoleles - definiert wurde. Eine historisch bedingte Definition, die heute noch als allgemein gültig angesehen wird.
Nicht Lessings moralisiertes ‚Furcht und Mitleid' ist gemeint, sondern elementar derbes Heulen und heftiges Zähneklappern.
So stammt das Ursprungswort des Begriffes ‚Tragödie', die wir als hehrste und erhabenste Kunstform heute respektieren, vom Wort ‚tragos' ,Ziegenbock' ab, und bezeichnete des Fest des Tieropferrituals, bei dem der Tiergott aufgegessen und sein Blut getrunken wurde. Daher stammt auch der Begriff ‚Sündenbock', jemand, der herausgegriffen wird und für die Sünden anderer büßen muss.
Die Ursprünglichkeit des Gefühls wird in den theatralischen Formen zwar eingedämmt durch innere (regelhafter Aufbau des Dramas) und äußere formale Rahmen (Masken, Sprachstil), um allzu heftige, unkontrollierbare Ausbrüche der zuschauenden Menschen zu kanalisieren, aber es bleibt dennoch ‚ursprünglich', Urgefühle anregend.
So ist dieses Theater der Griechen bestimmt. Ziel ist nicht mehr nur die rituelle, ekstatische Entladung im Kult, aber auch noch nicht die bürgerlich-moralische Läuterung, die Pädagogik der Besserung, gemeint ist eine eher leibliche ‚Katharsis', die Reinigung des Körpers und der Seele durch Öffnen des Spundlochs, sehr organisch gedacht, denn die Lehre der Funktionen der Körpersäfte ist damals noch sehr verbreitet.
Ungefiltert sind sie, diese Gefühle der hehren Griechen, urgewaltig, unmittelbar, eruptiv - eben Heulen und Zähneklappern. Eleos und Phobos.
Das ist es, was die griechische Tragödie hervorruft. Denn die drakonischen, grausamen Strafmaßnahmen des Blendens und Köpfens stimmen noch mit der Vorstellungswelt des eigenen Empfindens überein.
Der Mensch vernichtet den Menschen noch von Hand, von Angesicht zu Angesicht, mit selbst geführten Waffen, er weiß, was der Todesstoß bedeutet. Der Mensch tötet noch nicht von Ferne aus der Luft, anonym, computergesteuert, radarüberwacht, gesendet als Live-Dokument im Frühstücksfernsehen.
Das Grauen ist noch unmittelbar, ohne eine vorgefertigte, sich wiederholende Bilderflut.
Erst die bürgerliche Welt - von Lessing für das Theater theoretisch definiert - hat diese ursprünglichen Empfindungen eingeebnet und geglättet zu Gunsten eines nahezu abstrakten Verhaltens:
Nicht Leiden, sondern ‚Mit-Leiden'.
Nicht Weinen, sondern ‚Einfühlen'.
Nicht Zähneklappern, sondern ‚Furcht'.
Nicht Flennen, sondern ‚Läuterung' -
geistige, nicht körperliche Katharsis, Reinigung der Seele, nicht des Darms.

Es sind erst die neuen, bürgerlichen Maxime, die davon ausgehen, dass das Theater erzieherisch wirken solle, als ‚moralische Anstalt', als Instrument der Identitätsbildung, der ideellen Zusammenschließung bürgerlicher Individuen im politischen Gegensatz und Widerspruch zur feudalen Gesellschaft.
Die Verfeinerung des Theaters zum ‚bürgerlichen' Theater geht einher mit der Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Die feudale Gesellschaft war im Umbruch und in Auflösung begriffen und mit ihr die willkürlichen, im kaufmännischen Sinne unkalkulierbaren Formen ihrer repräsentativen Machtentfaltung und herrschaftlichen Machtdemonstration, wozu teilweise durchaus auch das höfische Theater mit seinen teuren repräsentativen (Opern)Aufführungen zählte. Das historische Problem des Adels war, dass der direkte Warentausch längst ersetzt worden war durch eine allgemeingültige Ware, durch das Geld. Geld ließ sich nicht aus Äckern pressen, sondern nur über die Abgaben der ausgepreßten Untertanen.
Geld und vor allem die Mehrung des Geldes bedurfte eines anderen Wirtschaftsverkehrs, vornehmlich des Handels, dessen Ziel der pekuniäre Zugewinn war und ist.
Die Stunde der Kaufmannschaft hatte geschlagen, selbst der deutsche Kaiser landete im Schuldbuch der Fugger. Die Kaufmannschaft, die erstarkte neue Macht in der ausgehenden mittelalterlichen Gesellschaft, formierte sich, bereitete den großen politischen Machtwechsel vor, den Machtwechsel in eine Gesellschaftsform, in der wir alle heute noch leben.
Der Kaufmann verhielt sich rational, vernünftig, praßte nicht in Saus und Braus wie der von der Hand in den Mund lebende Adel, er investierte, um nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig neue Gewinne zu erzielen.
Triebaufschub wurde ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Verhaltenskatalogs. Erbe, Besitzstandsmehrung und Besitzstandswahrung bestimmten die sozialen wie philosophischen Entwicklungen. Der Trieb, die Leidenschaft, wurde mit ‚Vernunft' gedrosselt, die Rationalität begann, Leben und Kunst zu dominieren.
Neben den ausschließlich an Sprache gebundenen Zeitschriften, damals ein neues, bürgerliches Medium, das sein Entstehen der Buchdruckerkunst und der dadurch geförderten Verbreitung der Fähigkeit des Lesens verdankt, beanspruchte das Bürgertum, die um eine feudale Burg lebenden >Bu(ü)rger<, nun auch für sich ein spezifisches Öffentlichkeits- und Versammlungsmedium. Dieses wurde das Theater, das dabei zu eben dem bürgerlichen Theater umgeformt und damit geschaffen wurde.
Dieses - damals moderne - Theater des Bürgertums war, im Gegensatz zum höfischen Repräsentations- und Unterhaltungstheater, eine Theaterform, die den rationalen Dialog, die Vorstellung, die Sprache könne alle Probleme lösen, zum Kernstück ihrer Existenz machte.
Der Aufwertung des rationalen Dialogs entsprach auch genau die immer größer werdende Kalkulierbarmachung des Menschen mit Hilfe systematischer psychologischer Beobachtungen. Wer gut ‚handeln' wollte - im doppelten Wortsinn -, musste sein Gegenüber gut einschätzen können.
Nicht zuletzt auch daher rührt der Begriff ‚Handlung', ‚Handeln' gleichbedeutend für das Geschäft wie für das Geschehen im Theater und der Literatur.
Dem entsprach, das Versammlungsorte des Bürgertums zunächst in Handelszentren entstanden. Hamburg hatte die erste Nationaltheater-Bühne, die Neuberin machte sich in Leipzig seßhaft. Lessing hatte mit beiden zu tun. Das Theater des Bürgertums, auf der Sprache beruhend, war der adäquate moderne Ausdruck dieser neuen Zeit.
Alle vorbürgerlichen Formen wurden verpönt. Unterhaltung und Harlekinaden verloren an literarischem Wert, wurden Kunst zweiten Ranges. Das mittelalterliche, vorbürgerliche Theater der Jahrmärkte und Schaubuden geriet ins Abseits: keine derbe, weihelose Belustigung des Volkes mehr, keine heruntergelassenen Hosen, keine Grobheiten, Zoten und Stegreifspiele.
Theater bekommt - auf dieser Stufe der ‚Moderne' - einen politisch-sozialen Stellenwert.
Selbst heute noch haben es das Unterhaltungstheater und die Versuche, die vorbürgerliche Theatertradition fortzuentwickeln, schwer. ‚U' und ‚E' werden überall qualitätsmäßig unterschieden, ‚U' herablassend behandelt. Übrigens ein vorwiegend deutsches Werturteil. Die angelsächsischen Länder z.B. kennen diese Klassifizierung nicht.

Die sprachbezogene Entwicklung des Theaters hat sich auch im Publikum niedergeschlagen.
Bildung war nämlich auf einmal nötig, um diesem Theater folgen zu können. Die Geste, der artistische Spaß wich dem Wortspiel, dem klug formulierten Gedanken. Damit verschloß sich das Theater jedoch mehr und mehr dem weniger (aus)gebildeten Volk.
Theater wurde ein Medium der höheren Kreise und ist es bis heute geblieben.
Das Unterhaltungstheater wird den weniger intellektuellen Schichten zugeordnet, fällt bei einigen nicht einmal mehr unter den Begriff der Kunst. Dadurch hat sich die Anzahl derer, die sich für Theater interessieren, ja, die es noch verstehen, kontinuierlich verringert. Zumal dieses ‚andere' Theater auch gerade jene besonderen Fähigkeiten erforderte, über die wir anfangs sprachen: Bewertung des Arrangements der Personen, Begreifen von unter dem vordergründigen Text liegenden Untertexten, Entschlüsselung von sozialen Positionen in den Kostümen und Räumen, in den Haltungen der Personen, in der Sprachebene.
Theater wurde, im Gegensatz zu seinen vorbürgerlichen Formen, ein Ausdrucksmedium des gebildeten Bürgers.
Und mit der Entwicklung von Ausdrucksformen, die später dann wiederum versuchten, diesem Modell des bürgerlichen Theaters entgegenzuarbeiten, begann, sehr vereinfacht gesagt, der Schritt in Richtung jener ‚Moderne', um die es uns heute geht, nämlich um Ansätze einer Weiterentwicklung des Theaters des Bürgertums. Dabei schränken die inzwischen eingeübten und verstandenen bürgerlichen Ausdrucksformen nun wiederum das Verstehen neuer Formen ein, stehen ihnen dabei manchmal sogar regelrecht im Weg. Gerade das geübte bürgerliche Publikum - ‚Wir wollen unsere Klassiker wiedererkennen!' - tut sich deshalb mit dem Sich-Einlassen und Verstehen neuerer, anderer, modernerer Formen des Theaters verständlicherweise schwer, schwerer als das bei in dieser Hinsicht weniger geübten, z. B. jugendlichen Zuschauern der Fall ist. - ‚Wir wollen unsere Klassiker (kennen)lernen!'

Ich meine, Möglichkeiten zur heutigen Fortentwicklung des Theaters zu unserer ‚Moderne' liegen darin zu prüfen,
1. welche Formen des vor-bürgerlichen Theaters zur Auflösung der Sprachfixierung beitragen können,
und 2. welche der dem bürgerlichen Theater von Diderot anempfohlenen Spielform des realistisch-illusionistischen ‚Theaters der vierten Wand' zur Auflösung gereichen könnten, des ‚Theaters der vierten Wand', das notwendigerweise die strikte Trennung von Spielenden und Zuschauenden zur existentiellen Voraussetzung macht.
Um diesen Gedanken besser folgen zu können, soll kurz der Begriff des ‚Theaters der vierten Wand' erläutert werden.
Eine historische Übergangsform ist z.B. noch bei Marivaux oder Goldoni zu beobachten, der die Illusion der vierten Wand, des voyeurhaften Beobachtens, aber des Selbst-nicht-beobachtet-werdens, noch durch Relikte von Spielformen und Figuren der ‚Commédia d'ell arte' und des Stilmittels des Beiseitesprechens unterbricht.
Der psychologisch geführte Charakter löst die Typen ab, genauer gesagt: die Stereotypen, die längst keine Charaktere sind, sondern nur mit bestimmten (psychologisch verstehbaren) Eigenschaften belegte Handlungsträger: der ‚Liebhaber', die ‚Geliebte', der ‚Hahnrei', das ‚Kammermädchen' und natürlich der ‚Hanswurst'.
Diese Brechung der Illusion, die spontane Wachsamkeit der Phantasie, fehlt beim Theater der ‚vierten Wand'.
Denis Diderot erhob das Spiel der ‚vierten Wand' zur künstlerischen Maxime.
In seinem Werk ‚Von der dramatischen Dichtkunst' schreibt Diderot:
"Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebensowenig, als ob keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde." (Von der Dramatischen Dichtkunst, 1758)

Die gedachte ‚vierte Wand' bringt den Zuschauer unbemerkt in eine Schlüssellochperspektive, macht ihn, genau genommen, zum Voyeur.
Der Voyeur kann und darf sich nur noch mental am Spiel der anderen beteiligen. Zuschauer und Schauspieler tun, wider besseres Wissen, als wären sie nicht gleichzeitig gegenwärtig im selben Raum, im Theater. Damit aber, und darauf kommen wir gleich noch zu sprechen, wird eine überaus bedeutende Eigenheit des Theaters überhaupt geleugnet bzw. verschenkt.

Denn gerade in diesem Punkt, in dem Versuch der Wieder-Auflösung der trennenden vierten Wand, einer faktisch nicht stimmenden, einer rein mental behaupteten Prämisse des bürgerlichen Theaters, sehe ich Punkte für eine Weiterentwicklung des Mediums, dort liegen für mich Ansätze für neue mögliche Denk-Modelle für den vielgestaltigen Umgang mit dem Medium Theater und seiner Besonderheiten.
Eine allgemeine Zielvorstellung im Umgang mit dem Theater müßte es deshalb sein zu versuchen, die besonderen Eigenarten des Theaters als Medium wieder neu ins Bewußtsein zu bringen.
Die Frage ist knapp zu stellen:
Was ist eigentlich (heute noch) das Besondere am Medium Theater?
Die Frage ist - vielleicht - ebenso knapp beantwortet:
Das Neue ist unter Umständen das Alte: die Grundlage des Theaters überhaupt:
Es ist für mich die gleichzeitige Anwesenheit des Agierenden wie des Zuschauenden, des Produzierenden wie des Konsumierenden -
"Wo niemand zusieht, gibt es auch kein Theater" - das ist und bleibt das Besondere am Medium Theater, weil es zugleich seine einfachste Grundform und Grunddefinition seit seinem Entstehen war und ist.

Diese grundlegende Beziehung der gleichzeitigen Anwesenheit von ‚Spielern' und ‚Bespielten' weist kein anderes Medium auf.
Weder das Buch, noch der Film, schon gar nicht das Fernsehen.

Das Fernsehen versucht immer wieder mit der Scheinöffentlichkeit von im Studio anwesenden Zuschauern, die mit Hilfe von blinkenden Aufforderungen zum Klatschen und Lachen verurteilt werden, Publikum, Begleitung Gleichgesinnter und Öffentlichkeit gegenüber dem vereinzelten Fernseher zu suggerieren, wenn nicht Lachen und andere Reaktionen des vermeintlichen Co-Publikums im Studio gleich direkt von der Konserve eingespielt werden.
Dagegen geht es mir immer wieder darum, auch in meinen eigenen Stücken, die einzigartige Beziehung zwischen Bühne und Publikum lebendig zu halten, bewußt zu machen. Es geht um die Rettung der Phantasie, um derer wechselhafte Beziehung zwischen Realität und Fiktion, um die jeweilige gegenseitige Durchdringung beider Sphären. Das Theater und sein gleichzeitig bei der allabendlichen Entstehung des Kunstwerks anwesendes Publikum bilden eine ganz besondere Einheit zwischen aktiver (An)Teilnahme und bloßem Zuschauen.
Daran ist zu arbeiten.

Fassen wir einmal zusammen:
Das gegenwärtige Theater in Deutschland ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, in seiner wesentlichen Grundstruktur noch immer geprägt von den Entwicklungen des sogenannten ‚Bürgerlichen Theaters' des 18. Jahrhunderts. Damals bildete sich das Theater heraus aus eine Versammlungsstätte des politisch und wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums, das einen übergreifenden gemeinsamen gesellschaftlichen Gegner hatte, den Adel und seine Feudalherrschaft. Die wirtschaftliche Macht war längst beim Bürgertum, politisch entsprach diesen realen Zuständen jedoch noch nichts. Das Theater war damals ein kämpferisches Instrument, eine Stätte bürgerlicher Öffentlichkeit, in der man zusammenkam, um sich moralisch über den herrschenden Adelsstand zu erheben. Wirtschaftlich war der Bürger der Burg bereits überlegen, moralisch fühlte er sich überlegen, und so war es nur eine Frage der Entwicklung, bis es auch politisch soweit war. Und dazu hat das Theater seinen Teil beigetragen, weniger durch sein Programm als vielmehr durch seine bloße Existenz, die eine gemeinschaftliche gegenseitige Bestätigung und Vergewisserung der neuen sozialen Normen ermöglichte.
Aus dieser historischen Entwicklung heraus resultiert auch die heute vielleicht ein wenig ziellose Suche des Theaters nach neuer Selbstbesinnung und Selbstbestimmung. Eine neue Gesellschaft ist nicht in Sicht, der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft schreitet voran, aber deren zerrissener Wandel lässt auch den Wandel des Theaters ein wenig ziellos erscheinen, teils durch Wahrung des Alten, teils durch Auflösung bestehender Formensprachen. Diese Ziellosigkeit bestimmt das gegenwärtige Dilemma des Theaters. Daraus resultiert auch, das in bürgerlich konservativen Bundesländern noch immer mehr in bewahrender Absicht für das Medium Theater getan wird als in anders orientierten Ländern.
Das deutsche Theater war schon in seiner bürgerlichen Gründungsphase in den Köpfen der Macher sehr der Theorie verpflichtet, in der Praxis jedoch mehr auf die Unterhaltung des Publikums hin angelegt, als die Tiefgründigkeit manch schürfender Theaterabhandlungen vermuten lässt. Selbst Johann Wolfgang von Goethe als Theaterdirektor seines Weimarer Hoftheaters zollte dieser Notwendigkeit Tribut.
Auch er spielte als Theaterdirektor am meisten die Unterhaltungsstücke z. B. eines Kotzebue, die bei den führenden Köpfen, eben den (damaligen) Intellektuellen, als verpönt galten.
Auch dieses Verständnis von kultureller Wertigkeit hat sich bis heute in Deutschland erhalten: Die Komödie, die Unterhaltung, und damit der Griff nach einer größeren Anzahl von Zuschauern, gilt als künstlerisch minderwertig.
Das wiederum hat zu tun mit einem zweiten Überbleibsel aus der Lessing-Zeit, der Zeit des aufstrebenden Bürgertums, das da lautet: Das Theater hat einen ‚kulturellen', gar einen ‚kulturpolitischen' Auftrag zu erfüllen, es dient zur wie immer auch gearteten ‚Bildung' seiner Besucher. Man erwartet vom Theaterbesuch, dass man ‚etwas davon hat'. Das können Argumentationshilfen sein, Lebensweisheiten, Konfliktbewältigungen, Informationen, im besonderen aber die Bestätigung moralischer Überlegenheit gegenüber den ‚anderen', natürlich ‚unterlegenen'. Und diese immer währende, am liebsten unkritische Bestätigung ist dem Bürger ein wesentliches Bedürfnis, das ihm die Kunst, die er sich vielerorts leistet, erfüllen soll.
Und damit kommen wir zu einer weiteren Besonderheit der deutschen Theaterlandschaft:
die Vielzahl der existierenden Theater, das flächendeckende Angebot in der gesamten Republik.
In Deutschland braucht niemand länger als etwa eine Stunde zu fahren, um am Repertoire des deutschen Theaters teilzuhaben. Das ist eine große Einmaligkeit in dieser Form. Zahlreiche ehemalige Hoftheater haben auch nach dem Niedergang der feudalen Herrschaft weitergemacht, jede Stadt legte Wert auf ein eigenes Theater, als Ausdruck der Kultur und der Teilhabe an der kulturellen Bildung. Und diese vielen Theater haben, um leben zu können, ihr spezielles wirtschaftliches Fundament erhalten:
sie werden subventioniert, von Rechtsträgern - städtisch oder staatlich - finanziert, das heißt, sie sind nicht in erster Linie abhängig von der abendlichen Kasseneinnahme.
Diese Konstruktion ist - so ideal sie klingt - a priori nicht konfliktfrei. Sie birgt Widersprüche in sich, die ständige Diskussionen sicher gewährleisten. Die tragenden Begriffe dieser Diskussion sind: Werktreue und Skandal, sowie: Finanznot und Krise.
Das Theater behauptet nämlich einerseits seine künstlerische Freiheit, sein kritisches Gegenschwimmen zum Mainstream, wird aber andererseits - und bei dieser Bewertung ist die jeweilige politische Couleur von Bedeutung - für einige gerade dafür nicht subventioniert, sondern dafür, dass es das kulturelle bürgerliche Repertoireerbe ehrenvoll verwaltet und vorrätig hält. Das heißt, es hat ‚werktreu' zu sein, es hat so zu sein, wie man es von ihm durch überlieferte Jahrhunderte lange Tradition erwartet. Tut es das nicht - was wiederum anderen gerade gefällt -, wird das als Abweichung, als ‚Skandal' empfunden -‚Wir wollen unsere Klassiker wiedererkennen!' - was jedes Mal eine erneute Diskussion um die Subvention in Gang setzt.
Zur Wehr gesetzt haben sich die Theatermachenden - wie meistens - durch unterschiedliche theoretische Überlegungen. Zum einen ist die ‚Werktreue' - ich meine zu recht - zu einer Chimäre erklärt worden: ‚Werktreue' gäbe es nicht, alles sei subjektive Interpretation und wandele sich in Wertung und Wahrnehmung mit den sich wandelnden Zeiten. Der einzige, der festlegen darf, was im akuten Einzelfall das als wesentlich zu betrachtende des jeweiligen Werkes sei, ist der Regisseur. Das ‚Regietheater' dominiert daher noch immer das deutsche Theater. Es ist nicht der Autor, es ist der Regisseur, er bestimmt alles, er ist der eigentliche ‚Macher'. Er verfügt, was aus dem Stück, das reine Materialvorlage zu sein hat, ‚gemacht' wird. Der Regisseur und sein Bühnenbildner interpretieren den dar- und vorzustellenden Vorgang, so oder so. Denn so oder so ist die Kunst, denn so oder so ist das Leben.
Dieses Entweder-oder-Prinzip, dieses ‚Friss oder stirb' funktioniert allerdings nur beim Publikum in größeren Städten, in denen genügend Personen rein durch Anzahl der Einwohner als potentielle Besucher vorhanden sind. Die kleineren Häuser in der sogenannten Provinz bleiben mit solchen Programmambitionen leer, bzw. es ist meist nur eine kleine intellektuelle Gruppe, die solche ‚Versuche' gern sehen möchte, aber ihrerseits im selben Theater alles kritisiert, was nicht diesen Stellenwert des ‚künstlerisch Wertvollen' einnimmt. Und damit gibt es, in den kleineren Aufführungsorten deutlicher spürbar als in großen, eine Spaltung im Publikum, nämlich zwischen - nennen wir sie: Traditionalisten und Modernisten.
Wo die Modernisten zugleich auch die Kritiker in den Lokalzeitungen stellen, erfährt das Stadttheater, dass sich bemühen muss, sein auch traditionalistisches Publikum zu halten, und also zumindest eine Mischung als Neuem und Altem im Programm bieten sollte, eine meist zu Unrecht geringschätzige Wertung in den lokalen Feuilletons. Und in den großen, überregionalen Zeitungen werden sie erst gar nicht wahrgenommen. Insofern geben die Informationen und Wertungen sowohl der großen wie der kleinen Zeitungen für denjenigen, der sich vor Ort nicht selbst überzeugen kann und nur auf Lektüre angewiesen ist, kein Bild der vielfältigen Wirklichkeit der deutschen Theaterszene wieder. Im Gegenteil, durch das Phänomen der Übernahme (oder auch gezielten Nicht-Übernahme) von in Feuilletons genannten Titeln in die Spielpläne der Theater, vergrößert sich im Laufe der Jahre dieser Spalt zwischen Traditionalisten und Modernisten immer mehr. Gewicht hat das, was in der Großstadt passiert.
Das deutsche Theater ist aber in seiner Vielfalt, seiner Anzahl der Spielstätten und in seinem Hauptstrom kein Großstadttheater. Es ist abhängig von verschiedensten lokalen Besonderheiten, von regionalen Eigenarten und es ist gekennzeichnet von einer enormen Unterschiedlichkeit.
Deutlich wird das an folgenden Zahlen:
Es gibt in Deutschland 1998 - nach der neuesten ausgewerteten Statistik - 152 öffentliche, das heißt: subventionierte Theaterunternehmungen. Sie erreichen annähernd 21 Millionen (20 680 199) Zuschauer. Außerdem gibt es 206 (von der Statistik) erfasste Privattheater, die nur teilsubventioniert sind oder alle Einnahmen selbst erwirtschaften müssen. Sie erreichen etwa 11 ½ Millionen (11 431 059) Zuschauer. Ferner gibt es 42 Festspielunternehmungen mit 1 ½ Millionen (1 488 312) Zuschauern und 55 selbständige Kulturorchester mit etwa 2 1/2 Millionen (2 455 956) Besuchern.
Das macht insgesamt etwa 36 Millionen ( 36 162 168) Besucher im Jahr 1998.
Es wurden in gleichen Jahr insgesamt 4.656 Produktionen hergestellt mit 64.547 Veranstaltungen. Das macht täglich 176 Aufführungen.
Nicht erfasst in der Statistik sind die überaus zahlreichen freien Gruppen (oder gar Laientheater), von denen sich viele auf Kindertheater spezialisiert haben.
Das ist alles in allem ein gigantisches, flächendeckendes Theater-Angebot, das 15 Prozent (15,1; im Vorjahr: 14,7) der Ausgaben durch Eintrittsgelder selbst wieder hereinholt. Die öffentlichen Theater erhalten insgesamt 3,637 Milliarden Betriebszuschuss.
Das sind auf der einen Seite beträchtliche Summen, aber es ist auf der anderen Seite nicht einmal ein Prozent des Bundeshaushalts, denn zu diesem einen Prozent des Bundeshaushalts, das für Kultur ausgegeben wird, gehören alle Ausgaben für Kulturelles, nicht nur die für Theater, Festspiele und Orchester.

Und damit kommen wir zu einem weiteren Konfliktpaar:

Finanznot und Krise.

Das deutsche Theater war immer in der Krise. Die Krisendiskussion gibt es solange es das subventionierte Theater gibt.
Immer ist das Geld, das zur Verfügung steht, für die Nehmenden zu wenig, für die Gebenden zu viel, immer sind Theater wenn nicht von der Schließung, so doch von der Kürzung der Zuwendungen bedroht.
Aber in den letzten Jahren ist diese Krise offensichtlicher geworden. Immer mehr Theateretats werden tatsächlich gekürzt, Sparten werden abgeschafft (vornehmlich Ballett), Theater werden zusammengelegt (Altenburg/Gera, Rudolstadt/Eisenach etc.) etliche ganz geschlossen (Schillertheater Berlin, Theater Brandenburg, Frankfurt/Oder, Rostock, Wuppertal, Eisenach etc.). Mehr und mehr wird sogar das Subventionssystem selbst in Zweifel gezogen, umso heftiger, je leerer die öffentlichen Kassen werden durch nicht mehr ausgewogene Ausgaben durch Sozialgesetze und durch schwierige Renten- und Gesundheitsreformbestrebungen sowie Steuerausfälle in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation oder gewaltiger Mobilfunk-Lizenzkostenabschreibungen.
Die immer wieder aufflammende Diskussion wird verstärkt mit den Schlagwort ‚Sponsoring' geführt.
Die deutschen Theater sind im einzelnen tatsächlich in einer für sie schwierigen Lage: Es soll gespart werden. Das ist gerade für die vielen kleinen Theater kein so großes Problem, die mussten nämlich schon immer sparen. Die Presse greift aber gern Auswüchse der Großstadttheater heraus, die sehr hohe Gagen zahlen oder äußerst teure Dekorationen bauen. Der Etat einer einzigen Operetten-Ausstattung in München (250 000 DM) reicht zum Beispiel für die Ausstattung aller Stücke für 2 ½ Jahre im ETA HOFFMANN THEATER Bamberg.
In solchen Beträgen steckt bei den großen sicher mehr Luft als bei den kleinen, aber gekürzt wird nicht individuell, sondern flächendeckend, also auch bei den kleinen Häusern. Sparen kann ein Theater aber am allerwenigstens bei den Fixkosten, als vielmehr nur im Bereich des Personals, und auch da vornehmlich nur im Bereich des künstlerischen Personals.
In den deutschen Stadt- und Staatstheatern und den Landesbühnen, das sind Theater mit festem Ensemble, die eine bestimmte Region bereisen, ist der Personalbestand im Jahr 1998 gegenüber dem Vorjahr um 11 Prozent verkleinert worden, das sind immerhin 500 gestrichene Stellen.
Die Situation der Theater ist inzwischen so, das eine weitere Personalausdünnung nicht mehr vorgenommen werden kann, ohne in das Programmangebot direkt einzugreifen, d. h. weniger Aufführungen und Produktionen anzubieten. Damit verbunden ist aber zwangsläufig auch ein Einnahmerückgang, und der ist nicht mehr zu verkraften, denn trotz aller Subvention sind inzwischen auch die deutschen Theater auf ihre Einnahmen angewiesen. Seit mehreren Jahren nämlich sind die Betriebszuschüsse nicht nur nicht gestiegen, sondern gekürzt worden, aber vor allem ist bei den meisten Theatern die Erhöhung der von der Gewerkschaft und dem Deutschen Bühnenverein, dem Dachverband der deutschen Theater, ausgehandelte Tariferhöhung für das künstlerische Personal nicht auf die Etats aufgestockt worden. Das heißt: Jedes Jahr gibt es wieder eine neue versteckte Kürzung um drei bis fünf Prozent.
Diese Situation hat Folgen auf mehreren Gebieten. Nicht nur Personal wird entlassen, die Ensembles, eine wesentliche Grundfeste des deutschen Theaters, werden zahlenmäßig verringert. Die Theater verändern inzwischen auch ihre Spielpläne und die Rufe nach Sponsoring werden mal wieder lauter.
Um die Einnahmen zu erhöhen braucht man entweder höhere Eintrittspreise oder man muss versuchen, mehr Publikum in die Häuser zu locken. Man muss also verstärkt auf die Interessen des Publikums eingehen, und die Interessen des Publikums müssen, wie wir gesehen haben, traditionsgemäß nicht immer die Interessen der Dramaturgien sein. Das bedeutet für einen Theaterspielplan, dass sogenannte Risiko-Produktionen, also Stücke, die neu sind, und von denen zu vermuten steht, dass sie weniger Publikum ziehen, weniger berücksichtigt werden. Man geht zumeist auf Nummer sicher, das heißt, man spielt das, was die Leute schon kennen, und das sind eben die Klassiker oder, wenn es hochkommt, die Klassiker der Moderne. Das entspricht in seinen Grunderscheinungsformen bereits einem Verhalten der Theater wie auf dem freien Markt. Kommerzialisierung scheint angesagt. Oder man hört immer häufiger den Satz: ‚Für besondere Vorhaben muss dann eben ein zusätzlicher Geldgeber gefunden werden, kümmert euch um einen Sponsor. In anderen Ländern, z.B. Amerika, geht das ja auch.'
Wohlverstanden, hier geht es nicht darum, unter dem Vorzeichen einer falschen Subventionsfürsorge wirtschaftlich vernünftiges Verhalten zu vermeiden. Es geht vielmehr darum festzuhalten, dass in Deutschland das Gebiet des Sponsoring wenig oder anders entwickelt ist als z.B. in Amerika.
Außerdem stößt Sponsoring bei vielen Künstlern in Deutschland immer noch auf innere Ablehnung, da man einen wesentlichen Kern des deutschen Kulturschaffens, nämlich die kritische Grundhaltung, die ‚Freiheit' aufgeben müsste. Denn es steht ja nicht zu erwarten, dass ein Geldgeber sein Geld dafür ausgibt, dass er damit sein Metier oder gar den Kapitalismus als solchen angeprangert sehen möchte.
Darüber hinaus ist das Kultursponsoring auch bei den deutschen Industriellen noch nicht sehr ausgeprägt.
Im letzten Jahr wurden insgesamt etwa 600 Millionen Mark für Kultursponsoring ausgegeben. Davon fielen an das Theater ganze 8 Prozent, also 48 Millionen Mark. Das wiederum entspricht dem Gesamtjahresetat eines einzigen mittelgroßen Drei-Sparten-Hauses (z. B Freiburg: 45 Millionen), ist also für die existierenden insgesamt 358 deutschen Theater viel zu wenig.
Hinzu kommt noch, das in kleinen Orten selten eine finanzstarke Industrie ansässig ist, so dass gerade bei weitgreifendem Sponsoring als Ersatz für die staatliche oder städtische Kulturfinanzierung wenig Aussicht auf größere Einnahmen besteht. Die Folge eines vermehrten Stützens auf Sponsoring wäre nichts anderes als ein weitreichendes Theatersterben, also eine extreme Veränderung der so einzigartigen deutschen Theaterlandschaft, und eine noch weitergehende Konzentration des kulturellen Angebots nur noch auf die Großstädte, auf die Hauptstädte, wie es sich in Berlin zur Zeit präsentiert, wo zur Auseinandersetzung zwischen den Alten (Peymann, Berliner Ensemble) und den Jungen (Ostermeier, Schaubühne) geblasen wird, die Vorahnung des letztes Gefechts für die alten Kulturgüter. Ein radikaler Generationswechsel steht bevor, einer, der das Gedankengut des 68er Generation, die damals auch im Theater starke Impulse gegeben hat, nicht mehr kennt oder gar akzeptiert.
Kurzum:
Das deutsche Theater steht nicht mehr und nicht weniger vor einer Krise als je zuvor, aber es steht vor einer Bewusstseins- und Legitimationsänderung. Es wird sich mehr dem Unterhaltungssektor öffnen müssen, um die Einnahmen zu sichern und damit seine Existenzberechtigung auch finanziell, nicht mehr nur ideell als Verwalter des bürgerlichen Kulturerbes unter Beweis zu stellen, und es wird mehr und mehr Teil der Unterhaltungsindustrie, der sich - mit den ihm eigenen Mitteln - gegen die allgegenwärtige Medienkonkurrenz durchsetzen und behaupten muss, gegen TV, Video, Internet, Multiplex und DVD.
Und das alles mit stetig knapper werdenden Mitteln. Diese Lage muss zu einem Umdenken auf vielen Gebieten führen. Das bedeutet, künstlerische - alte - Freiheiten aufzugeben, weniger Theorie und mehr Entertainment zu liefern, um neue Publikumskreise mit den immanenten theaterspezifischen Möglichkeiten zu erschließen.
Kurz:
Die geistige und wirtschaftliche Legitimation des bürgerlichen Theaters wird sich verändern, das mag man, je nach Standpunkt bedauern oder nicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


FT 06.10.01

Spagat zwischen Werktreue und Geldnot

Rainer Lewandowskis Vortrag über das Theater der Gegenwart eröffnete
VHS-Semester

Das Wintersemester der Bamberger Volkshochschule begann mit einem Eröffnungsvortrag des Intendanten des ETA-Hoffmann-Theaters, Rainer Lewandowski. Bürgermeister Werner Hipelius hieß den Referenten willkommen, dessen "Haus" in letzter Zeit gerade dadurch positiv von sich reden macht, dass es auf Grund der räumlichen Ausnahmesituation durch die Sanierung ganz besondere kreative Kräfte mobilisiert und sich durch Ideenreichtum auszeichnet.

Lewandowskis Vortrag mit dem Titel "Wenn niemand zusieht, gibt es auch kein Theater" beschränkte sich aber nicht nur auf die spezielle lokale Situation, sondern machte deutlich, dass diese eine spezifische "Bamberger" Antwort auf eine sehr allgemeine, das Theater der Gegenwart überhaupt betreffende Frage ist: Wie vermittelt man "Werktreue" mit modernem Regietheater, wie künstlerische Innovation mit moderner Finanznot?

Lewandowski beleuchtete die Besonderheiten der deutschen Theaterlandschaft, die seit über 100 Jahren von ästhetischen Debatten über Werktreue und Moderne, Bürgertum und 4. Wand geprägt ist und sich zudem durch die Finanznot, die ja viele kulturelle Einrichtungen betrifft, in einer Krise der Selbstbestimmung im Sinne von künstlerischer Freiheit befindet. Vor allem im so genannten Provinztheater wird die Programmzusammenstellung vom Publikum bestimmt und ist abhängig von finanziellen Erwägungen: Wenn beispielsweise der Etat einer einzigen Operetten- Ausstattung in
München (250000 DM) für die Ausstattung aller Stücke im Lauf von zweieinhalb Jahre im Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater reichen muss, dann verbieten sich Risikoproduktionen.

Ziel des Vortrags war es, die besonderen Eigenarten des Theaters als Medium wieder neu ins Bewusstsein zu bringen. Es bietet die Möglichkeit eines hochorganisierten Gedankenspiels von Menschen für Menschen, ohne dass in Realität gehandelt werden muss. Es zeichnet sich zudem durch die gleichzeitige Anwesenheit von Spielern und Bespielten aus, während beispielsweise das Fernsehen ja mit einer Scheinöffentlichkeit arbeitet.

Auf anregende Weise kommentierte der Referent zunächst den Begriff "Theater", der ja sehr vielschichtig ist: Er reicht von der Bezeichnung des Gebäudes bis zur Bühnenaufführung, umfasst personell gesehen das Ensemble, die Verwaltung und die Technik, verbindet die verschiedensten Künste (u.a. Schauspiel, Musik, Maske) miteinander und zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen.

Um zu erklären, welchen widersprüchlichen Publikumserwartungen so ein Theater"betrieb" entsprechen muss, reflektierte Lewandowski darüber, wie problematisch die Vorstellung von Werktreue ist, die der Zuschauer gemeinhin hat: Er will seine Klassiker wiedererkennen. Nun ist aber eine Inszenierung als "Endprodukt eines Arbeitsprozesses" zu sehen, bei dem individuelle Phantasie mitgewirkt hat und eine neue Deutung des "Klassikers" entsteht.

Objektive Werktreue einzufordern, um dem traditionellen Verständnis von Theater - "Wir wollen unsere Klassiker" - Genüge zu leisten, kann also auf Dauer nicht befriedigend sein. Das bürgerliche Publikum, wie es sich historisch entwickelt hat, steht sich regelrecht selbst im Weg, wenn es auf Grund seiner Bildung moderne Stücke bzw. Inszenierungen ablehnt. Außerdem muss die Vorstellung, dass das Theater einen kulturellen Bildungsauftrag zu erfüllen hat, erweitert werden angesichts der allgegenwärtigen Medienkonkurrenz: Es wird sich dem Unterhaltungssektor öffnen
müssen, um neue Publikumskreise zu erschließen und damit auch finanziell überleben zu können.

Um dem heutigen Theater eine Fortentwicklung zu ermöglichen, ist es beispielsweise notwendig, die so genannte 4. Wand abzubauen und - zum "vorbürgerlichen" Theater zurückkehrend - die strikte Trennung von Agierenden und Zuschauenden aufzuheben. Die Beziehung zwischen Bühne und Publikum muss lebendig gehalten werden.

Das Theater, so Lewandowksis Fazit, steht vor einer Neubestimmung: Es muss sich auf seine Möglichkeiten besinnen, ohne die Bedingungen der Medienkultur des 21. Jahrhunderts zu missachten.
Birgit Abraham