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Welt am Sonntag 12.05.02

Konkordanz von Form und Farbe

Sie waren Freunde und Rivalen. Eine Ausstellung in London beleuchtet den künstlerischen Dialog zwischen Henri Matisse und Pablo Picasso

Von Sebastian Goeppert

Picasso war schockiert. Der 24-Jährige betrachtete 1906 im Pariser Herbstsalon das Gemälde "Frau mit Hut" von Henri Matisse. Der Anführer der Künstlergruppe Fauves", zwölf Jahre älter als der Spanier, hatte seine Frau Amélie, die gern große Hüte trug, revolutionär porträtiert: expressiv und direkt, mit in die Fläche des Bildes hineinmodellierten Farben. Ein Jahr später sah Picasso das Matisse-Gemälde "Die Lebensfreude", Schlüsselwerk der Moderne, im Pariser "Salon des Indépendents". Wieder saß der Schock tief - und die Begeisterung für den Künstlerkollegen, der bei so genannten Kunstverständigen nur Hohn und Spott erntete. Matisse wurde Wegbereiter für fast alle, die nach ihm kamen: die Künstler der "Brücke" wie Heckel, Kirchner und Schmidt-Rottluff, die Vertreter des Kubismus mit Braque, Picasso und Gris, die des "Blauen Reiter" mit Kandinsky, Marc und Münter und die "Abstrakten" im Allgemeinen. Für die Schocktherapie revanchierte sich Picasso 40 Jahre später mit seinem Gemälde "Joie de vivre - Antipolis", seiner Hommage an Henri Matisse.

"Wir müssen so viel wie möglich miteinander sprechen. Wenn einer von uns stirbt, wird es Dinge geben, über die der andere mit niemand wird sprechen können." Ein Zitat, das mal Henri Matisse (1869-1954), mal Picasso (1881- 1973) zugeschrieben wird. Den beiden Giganten der Moderne widmet jetzt die Londoner Tate Modern eine große Ausstellung. Rivalität und künstlerische Befruchtung wird an 30 Gegenüberstellungen dieses ungleichen Paars veranschaulicht, "so unterschiedlich wie Nordpol und Südpol", wie Picasso einmal sagte.

Matisse hat das Neue seiner Kunst in seinen Aufzeichnungen so formuliert: "Was bei der Farbe am meisten zählt, das sind die Beziehungen." Er malte "nicht die Dinge, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen". Malerei soll die "Wirkung beschreiben und den Gefühlsniederschlag in mir", sagte er.

Der künstlerische Dialog im Werk der Dioskuren des 20. Jahrhunderts beginnt 1906 mit je einem Selbstporträt. Das Brustbild des bärtigen, skeptisch-selbstbewusst blickenden Matisse erschien Gertrude Stein als eine zu radikale Selbstentblößung. Ganz anders das noch melancholisch-suchende "Selbstbildnis mit Palette" von Picasso aus demselben Jahr, das dennoch in seiner künstlerischen Auffassung und Maltechnik dem Selbstporträt von Matisse verwandt scheint. Unterschiede der beiden Persönlichkeiten lassen sich aber schon hier erahnen: Matisse, ein Künstler, der die Welt auf Distanz hält, selbstsicher und im Habitus eines deutschen Professors, der nicht für oder gegen aktuelle Programme und Zeitströmungen kämpft, sondern Kontinuität von Kunst und Leben anstrebt. Picasso dagegen ein vitales Energiebündel, experimentierfreudig und Besitz ergreifend in Kunst und Leben, rastlos bis ins hohe Alter.

1906 begegneten sich Matisse und Picasso zum ersten Mal, im Hause der Geschwister Stein. Matisse gab sich generös und tolerant, redete dozierend auf Picasso ein, der zu dieser Zeit kaum Französisch sprechen konnte und immer nur "oui, oui, oui" antwortete. Hans Purrmann, Schüler und Freund von Matisse, hat treffend bemerkt, dass Matisse gerade deshalb ein so begehrter Lehrer war, weil er keine Rezepte vermittelte.

Picassos künstlerischer Durchbruch kam 1907 mit den "Demoiselles d'Avignon". Diesmal war Matisse der Schockierte. Denn diese Damen von Avignon hatten Köpfe, wie mit dem Beil behauen, unförmige Nasen, klobige Brüste. Nach dem Schock zweifelte Matisse an seiner eigenen Kreativität, dann folgte der Respekt vor dem Werk seines jüngeren Kollegen und, glaubt man Leo Stein, die Rivalität in der Künstlerbeziehung. Stein kolportiert den vermeintlichen Schwur von Matisse, er wolle Picasso fertig machen, weil die "Demoiselles d'Avignon" eine provokative Parodie auf die moderne Kunstbewegung seien.

Eine interessante Anekdote, vor allem in Hinblick auf das Geltungsbedürfnis des Sammlers Stein, der auch Picassos kubistische Werke als "gottverdammten Mist" abtat. Interessanter ist der Vergleich einzelner Werke und die in kritischer Auseinandersetzung mit dem anderen Künstler erschaffene Konkordanz von Inhalt und Form, Farbe, Linie, Fläche und Raum.

Schon früh hat die Komplementarität die Kunsthistoriker angeregt, Matisse und Picasso miteinander zu vergleichen. Man versuchte sich im Aufspüren von Gegensätzen wie Tradition und Fortschritt, der Dualismen von Kunst und Realität, Lüge und Wahrheit, Eros und Thanatos, und man fand in der Nachfolge andere Künstler als Freunde und/oder Rivalen wie Michelangelo und Raffael oder in der Moderne van Gogh und Gauguin.

Die Beziehung Matisse/Picasso ist biografisch und künstlerisch gleichermaßen spannend, und der Dialog endete nicht mit dem Tod von Matisse. Picasso bezog sich in seinen Werken bin ins hohe Alter immer wieder auf den Freund, der ihm nicht nur seine Odalisken überließ, sondern ihm vor allem sein eher platonisches künstlerisches Credo vermachte: die offene Tür und das offene Fenster als konstante, aber mehrdeutige Metapher für die Möglichkeit von Kunst und Künstlertum als Aus- und Aufbruch aus der zwanghaften Enge mannigfacher Lebensumstände hin zu Farbe, Licht und rhythmischer Form.

1949 schenkte Matisse Picasso eine von seinen weißen Tauben; Picasso machte sie zum Modell seiner berühmten "Friedenstaube", in die er immer wieder das Antlitz seiner damaligen Muse Françoise Gilot hineinkomponierte. Matisse schätzte Françoise Gilot und bemerkte anlässlich eines Besuchs in Vence: "Sollte ich je ein Porträt von Françoise malen, so würde ich ihr Haar grün malen." In der Folge schuf Picasso mehrere Françoise-Porträts mit strahlend grünem Haar, die ihre Nähe zu Matisse nicht verleugnen. Nach der Trennung von Françoise dokumentiert eine Farblithografie Picassos von 1954 "Der Maler und sein Modell" noch einmal die subtile, auf Achtung, Nachahmung und Wettstreit gegründete Künstlerfreundschaft: Françoise erscheint als grün behaarte Odaliske zwischen dem bärtigen alten Matisse und Picasso als traurig hässlichem Harlekin.

11. Mai bis 18. August; Tate Modern, London

Professor Sebastian Goeppert ist Professor für Medizin-Psychologie an der Uni Freiburg und Picasso Experte.

Zuletzt erschien im Insel Verlag das zusammen mit seiner Frau verfasste Buch "Das Antlitz der Muse" (13,80 Euro)